Andreas Stuth |
"Ach, leckt mich doch alle am Arsch", dachte sich Alfred Klamm, als er schon dreieinhalb Stunden vor dem regulären Feierabend aus dem Werkstor der Autozubehörfirma Dost auf die Straße trat. War das nun der sechste oder siebte Aushilfsjob, den er in diesem Monat schmiss? Aber das hier war nun wirklich nichts für ihn gewesen. Diese abgestumpften Reifenstapler und Dichtungssortierer. Egal, es war ja noch Geld da, für eine gute Flasche Pinot Noir reichte es allemal. Dann gab es halt übers Wochenende mal wieder nur Buttermilch und Bananen.
Das mit dem Nachtportier, das wäre schon etwas Längerfristiges gewesen; drei Wochen hatte er es da immerhin ausgehalten. Aber wer konnte den ahnen, dass der Hotelbesitzer sich bald als ausgemachtes Ekel und Personifikation des Geizes entpuppte? Die Arbeitsbedingungen erwiesen sich für Alfred als inakzeptabel. Er war nicht bereit, die ruhigen Nachtstunden damit zu verbringen, Schmierzettel zurechtzuschneiden. Auch die in seinem Aufgabenbereich liegenden, frühmorgendlichen Putzmaßnahmen vernachlässigte er, und es kam vor, dass nachts Gäste abreisten, ohne dass er deren Minibar- und Telefonrechnung abkassiert hatte. Obendrein ließ er sich nicht dazu herab, wie gefordert, den Kaffee des Rezeptionspersonals vom Vortag am nächsten Morgen der Küchenmamsell zu bringen, damit die ihn noch mal für das Frühstück der Gäste aufwärmen konnte. Sein Chef meinte daraufhin Gabel "würde nicht funktionieren" und legte ihm nahe "auszuscheiden", was Gabel auch tat.
Gut, es war klar, Geld musste her, aber iranische Sattelschlepper mit 4000 Kartons Rosinen bei 30 Grad Hitze von Hand zu entladen, war einfach nicht sein Ding. Es musste doch andere Bezugsmöglichkeiten für Geld geben. Sein Standpunkt blieb fest: "Lieber eine Stunde nachdenken, als ein Leben lang arbeiten". Also war dringend mal wieder ein Brainstorming angesagt. Aber so sehr er sich auch quälte, viel Neues kam nicht dabei heraus. Lotto spielen? Unsinn. Auf die Trabrennbahn ging er eh jeden Sonntag, zu seinem Vergnügen. Den großen Treffer konnte er bisher noch nicht landen. Einmal großer Einlauf mit drei Außenseitern bei 20 DM Einsatz und es hätte sich. Aber nein, alles abhängig von "Fortuna". Es müsste auch was geben, wobei der Faktor Glück keine Rolle spielt. Die Idee für die noch nie dagewesene Dienstleistung, auf deren Angebot alle Welt wartet, war bisher ausgeblieben. Reich heiraten? Och nö. Sekte gründen, Künstler werden, alles Quatsch. Verbrechen lohnt sich nicht. Dafür hatten auch seine Erziehung nicht die nötige "kriminelle Energie" in ihm herangezüchtet. Bei seinem gedanklichen Rundumschlag war er wieder in die gleichen alteingefahrenen Spuren geraten wie jedes mal. Kein frischer Einfall. Wie immer geriet er in verzweifelte Wut. Es war so ungerecht! Es gab so viele Menschen, die nicht wussten, wohin mit ihrem Geld, und er, was konnte er dafür, dass ihn die Natur damit gestraft hatte, dass die Vorstellung, einem regulären Broterwerb nachzugehen, ihm seelische Qualen bereitete und er dem baldigen Hungertod entgegensah? Aber diese reichen Leute, die mehr als genug hatten, vielleicht ließe sich ja da was machen. Seit langem mal wieder eine neue Idee? Vielleicht waren diese Krösusse gar nicht so, wie er es sich immer einbildete. Vielleicht waren das ja ganz offenherzige, hilfsbereite Menschen, die sich selbst eine Freude machten, wenn sie mal einem, der unverschuldet in eine Notlage geraten war, etwas unter die Arme griffen. Grundsätzlich lag es ihm fern, sich anzubiedern und quasi zu betteln, aber wenn das eine Lösung sein könnte, hätte er das für diesmal in Kauf genommen. Immerhin wäre er ja auch eine Art Edelbettler, um Stufen besser als jene, die mit dem Hut zwischen den Knien auf der Straße sitzen. Und selbst für die hatte er schon manchmal ein anerkennendes Nicken übrig gehabt.
Wie könnte man das also angehen? Man müsste einen wohlformuliertes Bittschreiben, allerdings ohne jeglichen Anklang von Winselei, an einen der reichsten Menschen schreiben, von dem man glaubte, er könne auf so ein Anliegen mit Wohlwollen reagieren. Wer war überhaupt reich? Rockefeller fiel ihm ein. Tot. Irgendein Bankenbonze müsste es sein. Oder vielleicht eher ein Künstler, ein Popstar? Moment, hatte er da nicht Anfang der Woche etwas in einer Illustrierten gelesen, der reichste Mann der Welt ist... Damals musste er den Namen wohl verdrängt haben, weil dieser Person so sehr eine gewisse Gemeinsamkeit mit ihm abging. Aber jetzt, mit dem brandneuen Konzept, musste dieser verdammte Name her! Nach 20 Minuten fieberhafter Suche mit Taschenlampe im Papiercontainer fand er das Heft wieder. Der reichste Mensch der Welt ist...: Der Sultan von Brunei. Na also, das klang doch schon mal: Sultan. Aber jetzt durfte nichts über den Zaun gebrochen werden, nicht in der Euphorie des Moments überstürzt irgend etwas Unausgegorenes unternommen werden. Diese Chance! Da musste generalstabsmäßig geplant werden. Wer ist dieser Mann, in welchem Umfeld lebt er? Wo und was ist Brunei? Gut, ein Land. Aber: Sprache, Klima, Religion? Alles wichtig!
Zum ersten Mal bereute er nicht, dass er sich vor zwei Jahren im Stadium des Deliriums eines seiner Kaufräusche an der Haustür dieses unendlich bändige Werk eines "Lexikons der Gegenwart" andrehen ließ. Da gab es nämlich auch einen ausführlichen Teil, der über sämtliche Staaten der Erde informierte. Er griff sich also den entsprechenden Band und las. Binnen kurzem war er schlauer. Er wusste nun, dass Brunei in Südostasien lag, auf der Insel Borneo, an Malaysia und Indonesien angrenzend. Dass es bis 1984 britisches Protektorat war, was auch immer das hieß, und 25000 Einwohner hatte. Die Hauptstadt hieß Bandar Seri Begawan. Die Staatssprache, Malaiisch, und die Religion, vorwiegend islamisch, konnten das Vorhaben erschweren. Aber dann kam der interessante Teil: Soviel er auch in seinem Lexikon blätterte, er fand kaum ein vergleichbares Bruttosozialprodukt. Klar: Reiche Öl- und Gasvorkommen. Und das war sein Mann: Sultan Hassanal Bolkiah Muizzadin Waddaulah. Ein Name wie aus 1001 Nacht. Ein Moslem also, musste natürlich berücksichtigt werden. Und die Sprache, na, so ein großer Exporteur musste auch Englisch verstehen.
Die halbe Nacht saß er an dem Schreiben. Höflichkeit stand im Vordergrund. Floskeln, wie er sie aus 1001 Nacht kannte, wurden großzügig eingebracht: Gebieter aller Gebieter, ich Unwürdigster aller Unwürdigen... Er sprach viel von Religion, erklärte seine missliche Lage damit, dass er bisher als Ungläubiger gelebt hatte, verwarf das dann aber wieder, als er bedachte, dass er es hier wahrscheinlich eher mit einem Ökonomen als mit einem Mullah zu tun hatte. Nach fünf Stunden hatte er einen Brief fertig, mit dem er einverstanden war, von dem er glaubte, wenn dieser nicht die gewünschte Wirkung tue, dann tue es auch kein anders formulierter. Mit Hilfe eines alten Reiseprospekt war es ihm sogar gelungen, einen malaiischen Abschiedsgruß anzufügen. Wegen der Englischfassung musste er um fünf Uhr noch mal seinen Nachbarn, den Studenten, rausklingeln. Aber bei dem hatte er noch was gut. Gerade als die Postämter öffneten, war der Brief fertig. Also los damit.
Wochen vergingen. Alfred Klamm schlug sich durch wie eh und je. Der neue Job als Statist an der Oper machte ihm Spaß, brachte aber zu wenig ein. Deshalb arbeitete er noch nachts in einer Maschinenfabrik. Dort produzierte er aber in einer Nacht mehr Ausschuss als diese Firma sonst in einem ganzen Monat. Also schulte er kurzerhand auf Pizzabäcker um. Als sich die Beschwerden der Kunden häuften, warf er auch in dieser Branche das Handtuch. Seine Brainstormings waren jetzt schon fast ein Ritual, aber jedes mal auch eine Farce. Auch der Einfall, den Reichen anzuzapfen, war inzwischen in die Liste der utopischen Ideen aufgenommen worden und wurde nur der Form halber noch erwogen, irgendwo zwischen "Trabrennbahn" und "Verbrechen". Der Brief war ein Flop gewesen, nach neun Wochen keinerlei Reaktion, alle Mühe umsonst. Aber ehrlich, hatte er sich davon letztendlich wirklich etwas versprochen? Im Rückblick erschien ihm das Unterfangen vollkommen idiotisch. Deshalb sah er auch davon ab, noch irgendwelche anderen Geldsäcke anzuschreiben.
Als er eines Tages nach Hause kam, öffnete seine Nachbarin,
die 82jährige Frau Staub, ihre Tür soweit, wie es die starke
Einbrecherschutzkette zuließ und wisperte ihm sorgenvoll zu:
"Sie, Herr Klamm, da wollte heute Nachmittag so ein Kerl zu
ihnen, jedenfalls hat er nach ihnen gefragt. So ein Asylant,
ein Pakistani oder so. Ich wollte sie ja nur warnen, das sind
ja alles Drogenhändler oder Mörder. Oder kennen sie so einen?
Herr Klamm, also unser Haus..., dass sie da nicht..., und sie
waren mir bisher immer so sympathisch. Sind sie mir ja auch
noch,... aber diese Asylanten. Sehen sie, unsere deutschen
Männer, meiner ist ja nu schon 15 Jahre tot, aber die sind arbeitslos,
und der kam in einem ganz schicken Anzug. Die stecken es denen
doch vorne und hinten rein. Und der, der hat mir ja gleich
hundert Mark gegeben, nur weil ich ihm gesagt habe, dass sie
nicht da sind, und ich auch nicht weiß, wann sie zurückkommen."
Alfred Klamm kannte seine Nachbarin, Geschwätz. 82, schon ein bisschen wirr im Kopf. 100 Mark für eine solche Auskunft. Fantasien eines Greisenhirns. Er machte es sich erst mal mit einem Bier und einem Salamibrot vor dem Fernseher bequem. Da klingelte es. Sicher bloß wieder einer dieser elenden Zeitschriftendrücker. Oder die Zeugen Jehovas? Er lugte durch den Spion. Nein, die treten immer zu zweit auf und da stand ein einzelner Mann. Zudem traf die Personenbeschreibung, die ihm vorhin seine Nachbarin gegeben hatte, exakt auf diese Figur zu. Interessehalber öffnete er. Der Herr sprach englisch und stellte sich als Hassanal Bolkiah Muizzadin Waddaulah vor. Er käme auf ein Schreiben von Alfred Klamm hin, ob er da richtig sei?
Alfred musste dreimal trocken schlucken. Nein, er schlief nicht, also Traum ausgeschlossen und das eine Bier konnte es auch kaum gewesen sein. Er bat den Herrn in seine Wohnung und offerierte ihm einen seiner schäbigen Sessel. Langsam wurde ihm klar, was geschehen war. In diesem Moment hatte der Sultan von Brunei, der reichste Mann der Welt, in seinem Wohnzimmer Platz genommen. Was war zu tun? Wie bewirtet man so jemanden? Jetzt bloß nichts verderben, so kurz vor dem Ziel. Einen Doppelkorn, ach nein, der war ja Moslem. Also einen Tee, oder? Aber auf alle Fälle Gastfreundschaft über alles. In Alfred brodelte es. Ungelenk und zittrig bewegte er sich in seiner winzigen Küche. Sein Gast war und blieb die Ruhe selbst. Er fühlte sich offensichtlich wohl. Alfred brauchte jetzt doch erst mal einen doppelten Doppelkorn, auch um sein eingerostetes Englisch etwas zu schmieren. Was macht der hier, wieso kommt der her, so allein, ganz privat, ohne Gefolge?
"Do you want something to drink, a cup of tee or...?"
Was er, Alfred, denn da trinke, wollte der Sultan wissen.
Das sei Schnaps, alkoholhaltig, sogar ziemlich, antwortete ihm
Alfred. Ja, genau so etwas sei ihm jetzt auch gerade recht,
aber bitte ein großes Glas voll, erwiderte der Sultan. Na gut,
er musste es ja selbst wissen. Alfred war es als würde ihm mit
einem Schlag seine Weltanschauung, die er sich über ein Vierteljahrhundert
mühselig zusammengebastelt hatte, plötzlich völlig durcheinandergewirbelt
und auf den Kopf gestellt. Aber er sagte sich: Bloß nichts
anmerken lassen, Mensch Junge, du könntest es geschafft haben.
Nach dem dritten Doppelkorn glich sich Alfreds momentane Verfassung
allmählich wieder seiner grundsätzlichen Lebenseinstellung
an, sprich: er wurde lockerer. Der Sultan hatte inzwischen
ein bisschen von der Reise erzählt, und was ihm in Deutschland
behagte und was nicht. Nach zwei Stunden war Alfred genötigt,
eine neue Flasche Doppelkorn bei der Tankstelle zu holen. Durch
deren Inhalt Einwirkung wurde das Gespräch zwischen Alfred
und dem Sultan zunehmend intimer, und gegen drei Uhr morgens
fand, nachdem das Gespräch sich zu Themen hin entwickelt hatte,
auf die alle Männergespräche hinauslaufen, wenn sich die Flaschen
leeren, so eine Art Verbrüderung statt. Da wagte es Alfred
auch endlich, den Sultan zu fragen, was ihn denn bewogen habe,
ihn auf seinen Bittbrief hin nun gleich zu besuchen. Der Sultan,
Alkohol nicht gewohnt, war nun schon von einer melodramatischen
Seelenlage befallen und hatte auch seine Motorik nicht mehr
ganz im Griff. Unter weitausholenden Gebärden erklärte er, dass Alfreds Brief ihm schlagartig klargemacht hatte,
dass er
mal wieder Urlaub gebrauchen könnte. Er würde gerne für ein
paar Tage bei Alfred wohnen, wenn ihm das nicht zu große Umstände
mache. Nein, nein, keinesfalls, jetzt bloß nichts versauen,
so kurz vor dem Ziel.
Urlaub, dachte Alfred, sich schlaflos in seinem Bett wälzend, dass er dem Sultan angeboten hatte, der aber die Luftmatratze gewählt hatte, auf der er jetzt schnarchte wie ein Ross, Urlaub? Was kann so einer, wenn er will, sich einen Urlaub machen. Aber, ja klar, Urlaub soll Abwechslung vom Alltag sein, soll eine andere Umgebung bieten. Was ist dann für einen, der sich alles, aber auch alles leisten kann, und der im schönsten tropischen Inselparadies lebt Urlaub? Also Abwechslung? Stinkige mitteleuropäische Großstadtluft und armselige Verhältnisse. Leuchtet ja ein. Endlich gelang es Alfred einzuschlafen.
Um neun Uhr erhob sich Alfred, rieb sich die Augen und fragte
sich nochmals, ob die Ereignisse des gestrigen Abends nicht
vielleicht doch nur einer seiner wilden Traumphantasien entsprungen
waren. Aber ein kurzes Aufklappen der Tür des Nebenzimmers
bestätigte: Alles Realität. Denn da lag der dicke, stöhnende
Sultan im Schweiße seines provisorischen Nachtlagers. Alfred
weckte ihn behutsam, sein bescheidenes Badezimmer sei nun frei.
Alfred arbeitete in der Küche gerade an einer Art Frühstück,
da hörte er den Sultan im Bad jammern. Alfred eilte hinzu.
Sein Gast empfand es als grauenhaft, sich mit einem Stoppelbart
im Spiegel zu sehen und wünschte nun sehnlichst, sich davon
befreien zu können. Allein Allah habe ihm nicht die Fähigkeit
gegeben, dies zu tun. Dies wurde bisher immer von einem speziell
dafür bestimmten Teil seiner vielpersonellen Dienerschaft an
ihm vorgenommen. Zum ersten Mal fühlte Alfred eine gewisse
Überlegenheit gegenüber dem reichsten Mann der Welt. Was nützt
dem sein Geld, wenn er sich nicht mal selbst rasieren kann,
dachte er bei sich. Aus diesem Übermut heraus, riet er dem
reichen Potentaten, sich doch von nun ab einen Vollbart stehen
zu lassen, wie er auch die Scheichs aus den anderen Ölländern
so ziere. Daraufhin durchlief die Gesichtszüge des Sultans
das breiteste Spektrum, das man sich für mimische Missfallensäußerung nur denken kann. Aber er blieb stumm. Wahrscheinlich, weil
er jetzt unter seiner Unfähigkeit litt und sie ihm peinlich
war. Da sprang Alfred ein, bot ihm seinen elektrischen Rasierer
an und erklärte in kurzen Worten dessen Anwendung. Schüchtern
näherte der Sultan sich dem Gerät.
Alfred verließ das Badezimmer. Zehn Minuten später erschien
der Sultan am Frühstückstisch, in einen hellbeigen, tropical-leichten
Anzug gekleidet. Er verschlang zwei weichgekochte Eier und
vier Toasts mit Nutella. Die bei Alfred stets reichhaltige
Käseauswahl ließ er unbeachtet. Anschließend wurde das Kulturangebot
der Stadt wahrgenommen. Transportmittel war Alfreds überholungsbedürftiger
Renault 5. Der Sultan äußerte sich ein- zweimal zur Inkommodität
dieses Gefährts, worauf Alfred jedes Mal kryptisch etwas äußerte
wie "das werde sich ja nun bald ändern". Die einzigartigen
Schlösser und Museensammlungen, auch die historischen Parkanlagen
und Seenlandschaften von Alfreds Wohnort wurden dem Gast an
diesem Tag großzügig vorgeführt. Alfred fuhr das Auto, musste zwischendurch tanken, zahlte den jeweiligen Eintritt für beide
und beglich die Rechnungen bei gastronomischen Zwischenstationen,
die sie zur Erfrischung einlegten, wobei sein Besuch stets
"Schnaps" bestellte. Sein eigenes Portemonnaie zückte der Sultan
nur, um weiblichen Dienstleistern Trinkgelder in für Alfred
kaum vorstellbaren Beträgen zuzustecken. So hatte Alfreds orientalischer
Gast an diesem Tag mehr Geld für sogenannte "Tipps" ausgegeben,
als Alfred jemals in seinem ganzen Leben auf einmal besessen
hatte. Allerdings hatte er keinen Pfennig zu den wirklichen
Kosten des Tages beigetragen, und Alfred war praktisch ruiniert.
Na gut, der Dispo war noch nicht völlig ausgeschöpft, und das
hier war doch wohl die Chance.
Am Abend, Alfred todmüde, hatte der Sultan noch Lust auf "Schnaps", "Doppelkorn". Des Sultans Hochstimmung ließ sich vielleicht auch daraus erklären, dass er inzwischen nicht nur gelernt hatte, sich selbst zu rasieren, sondern sich auch selbst die Haare zu waschen und die Fingernägel zu schneiden. Alfred Klamm raffte sich noch einmal auf. Zeig ihm halt noch die einschlägigen Lokale, wenn es denn der "Sache" dient. Man saß im HABANERA, der Herrscher über den Staat Brunei orderte Doppelkorn ohne Ende. Alfred wurde es langsam peinlich. Noch abzocken und dann den schnell wieder loswerden. In dieser Nacht randalierte der Sultan im Totalsuff schwer in Alfreds Wohnung. Alfred hatte die Rechnung in der Kneipe beglichen.
Um zehn saß der Sultan wieder friedlich mit Alfred am Frühstückstisch. Wieder verschlang er die Toasts mit Nutella und ließ den edlen Käse unbeachtet. Als Alfred abräumte, fragte ihn der Herrscher über Brunei, ob er mal das Telefon benutzen dürfe, was ihm Alfred natürlich nicht abschlug. Der Sultan wählte eine sehr, sehr lange Nummer. Alfred verzog sich diskret in die Küche um abzuwaschen. Von dort aus hörte er, wie der Sultan seinem Gesprächspartner auf malaiisch einige knappe Fragen stellte. Dann schwieg er einige Zeit, um anschließend in ein furchtbares Gebrüll auszubrechen. Alfred wurde Ohrenzeuge wie der Sultan 20 Minuten lang ohne Atempause in den höchsten Tönen wetterte und keifte, begleitet von rhythmischen Faustschlägen auf Alfreds wackliges Telefontischchen. Endlich wurde der Telefonhörer auf die Gabel geknallt. Mit hochrotem Kopf kam der Sultan in die Küche und kündigte mit noch heiserer Stimme an, dass er leider noch an diesem Tag abreisen müsse, auch wenn er gerne noch länger geblieben wäre. Dringende Geschäfte in seinem Land forderten seine Rückkunft. Er dankte für alles und sprach die Hoffnung aus, seinen Freund Alfred Klamm nicht zu kränken, wenn er sich vorzeitig dessen Gastfreundschaft entziehe. Einerseits atmete Alfred auf, endlich würde er diesen Parasiten wieder los. Aber wo war bisher seine Bitte aus dem Brief geblieben? Am Nachmittag, beim Abschied, wollte er das noch einmal mit Nachdruck zur Sprache bringen. Das musste der geeignete Moment dafür sein. Der Sultan bat Alfred, ihn zum Flughafen zu fahren. Unterwegs stoppten sie noch bei einem Kaufhaus, wo der Sultan einen elektrischen Rasierapparat, einen Föhn und eine Nagelschere erstand. Unter einem nonchalanten "keep the change" reichte er der Kassiererin einen Tausendmarkschein und schon setzten sie ihre Fahrt fort. Als sie am Flughafen eintrafen, waren da plötzlich all die dezent gekleideten Herren, über deren Fehlen an der Seite des Sultans sich Alfred zu Beginn so gewundert hatte. Ein Teil des Grüppchens, das nun schnell den Sultan umringte, trat mit jenem in einen regen Wortwechsel. Der Rest der Herren, von auffallend breitschultriger Statur und auch mit sonstigen Ausbuchtungen unter den Sakkos versehen, sprach nicht, blickte dafür aber umso wachsamer um sich. Alfred fiel es immer schwerer, sich in der Nähe des Sultans zu halten. Er machte gerade den Mund auf: "Ich wollte noch einmal bezüglich meines Briefes...", da wurde er von den bulligen Gestalten abgedrängt und vom Sultan getrennt. Die Rumschubserei nahm erst ein Ende, als ein eleganter Herr herantrat und Alfred mit ein paar Worten an die Drängler aus der unangenehmen Situation befreite. Er stellte sich als Botschafter des Sultanats Brunei vor und war bereit, mit Alfred noch einen Tee in der Flughafencafeteria zu trinken. Alfred erläuterte dem Diplomaten sein ganzes Ansinnen. Der nickte oft und schüttelte zum Schluss den Kopf.
"Unser Sultan, ha, der kann doch den Mangel an Geld gar nicht
als Problem erkennen. Ja, und der Brief und ihr Anliegen, das
hat er sicher schnell vergessen. Und jetzt hat er gerade ganz
andere Sorgen. Außerdem hätte er auch seine Mühe, einen bescheidenen
Gastgeber als Gegenleistung mit Schätzen zu überhäufen, ohne
fürchten zu müssen, den Mann aufs tiefste zu beleidigen. Alles
eine Frage der Ehre, verstehen Sie das nicht?
Wie stände er, wie ständen sie da, das wäre doch Unverhältnismäßigkeit
der Mittel, wenn der Sultan ihnen gegenüber mit seinem Reichtum
auftrumpfen würde. Aber gut, sie hatten Auslagen, wie hoch
waren die etwa? Oder, gut, ich denke mit 2000 DM müsste die
Sache doch großzügig ausgeglichen sein?"
Alfred stammelte ein leises "jaja", da war der Scheck auch schon
ausgefüllt. Alfred nahm ihn mit leerem Blick an sich, ließ
den Botschafter grußlos stehen und schlurfte aus dem Flughafengebäude.
Heute hatte Alfred die Doppelkorns nötig, um die Verdauung
des Erlebten zu beschleunigen. Am folgenden Tag löste er den
Scheck ein und ging abends mit dem gesamten Betrag in der Tasche
auf die Trabrennbahn. Wie es der Zufall wollte, lief im dritten
Rennen ein Pferd namens Sultan. Alfred musste es tun, er hatte
gar keine Entscheidungsfreiheit. Eine geheimnisvolle Macht
zog ihn an den Wettschalter und führte seine Hand, als er den
Wettschein ausfüllte: 2000 DM auf Sieg, Pferd 7, Sultan. Das
Rennen wurde gestartet, nach knapp zwei Minuten war alles vorbei.
Sultan ging als Vorletzter durchs Ziel. Alfred Klamm brach
in einen Veitstanz aus. "Notschlachten! Sultan Notschlachten!"
brüllte er über die Tribüne während er seinen Wettschein in
winzige Stücke zerfitzelte und sie in die Luft schleuderte.
Ein paar Leute drehten sich träge nach ihm um, aber im allgemeinen
war man hier so etwas gewohnt.
Am nächsten Morgen trabte Alfred selbst wieder, zur Normalschicht in der von der Autoliebhaberei lebenden, Dichtungen und Luftfilter stapelnden Firma Dost. "Wenn der Hund ins Feuerzeug scheißt, denkt der Bauer es blitzt", zigmal bekam er wieder den Lieblingsspruch seines Kollegen Pogadl zu hören, eines Mannes, der zum Autozubehörlagerverwalter geboren schien. In der Frühstückspause pflegte Pogadl aus der Zeitung vorzulesen, der Zeitung, die er selbst "das Lügenblatt" nannte.
"He hört euch mal das an, der reichste Mann der Welt, wusstet ihr das, wer das ist? Der Sultan von Brunei. Brunei, das ist doch da, irgendwo, so Hinterindien, da wo. Das ist der reichste Mann der Welt. Und der war... Moment... Bei einer inoffiziellen Visite im Fürstentum Monaco überreichte er der Fürstenfamilie als Gastgeschenk eine Schatulle mit Diamanten im Wert mehrerer Millionen Mark... Hoho, der kann mich auch mal besuchen kommen."
Alfred Klamm stand wortlos auf und ging zur Toilette.