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Andreas Stuth
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Andreas Stuth

Kurzgeschichten

Ein Zauberkünstler

An dem Tag, an dem der gelernte Möbelverkäufer Anton Rabe das 23. Ablehnungsschreiben auf eine Bewerbung erhalten hatte, stellte er fest, dass er zaubern konnte. Am Nachmittag war er nämlich zur Feier des Geburtstags seines Neffen Quentin eingeladen, und der hatte einen Zauberkasten bekommen. Nach dem Kaffeetrinken probierte Rabe mit seinem Neffen die einzelnen Tricks aus. Dabei gelang es ihm, die Farben von Spielkarten zu verändern, ein Tuch aus einer Pappröhre verschwinden zu lassen und eine Kugel in seiner Hand in einen Würfel zu verwandeln. Allerdings beherrschte er all diese Kunststückchen, die dem Zauberkasten beilagen, ohne dass er den "Trick", der hinter ihnen steckte, wie er in der Gebrauchsanweisung erläutert war, anzuwenden brauchte. Er musste einfach nur denken, was er tun wollte, und schon geschah es.

Diese Feststellung überraschte ihn natürlich ungeheuer, aber er war eine äußerst skeptische Natur. Alles Neue, das ihm im Leben begegnete, beschnupperte er zunächst mit größter Vorsicht. Das Ganze konnte eine vorübergehende Sinnestäuschung sein. Zudem hegte er ein großes Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen, was selbst seine Familie einschloss. Es wäre ihm daher nie eingefallen, seine Entdeckung aufgeregt vor der Geburtstagsgesellschaft auszuposaunen. Ihn beschäftigte vielmehr die Frage, warum er erst jetzt diese Gabe entdeckte, oder ob sie sich gar eben erst eingestellt hatte. Man darf wohl vermuten, dass sie sich in jenem Moment zum ersten Mal zeigte, weil Rabe sich an jenem Tage zum ersten Mal in seinem Leben mit Zauberei befasste. An Wunder glaubte er bisher nicht, deshalb war für ihn auch die Kunst, die welche hervorruft, nie von Interesse gewesen. Er war ein Mensch, der niemals in Wünschen dachte. Er erwartete vom Leben keine Geschenke, und so hatte er auch bisher keine erhalten. Um sich der Sache noch einmal zu vergewissern, ging er erst einmal in die Küche, wo er ungestört war. Dort stand er zunächst mal unentschlossen da. "Was könnte ich denn mal zaubern?" fragte er sich. Zögerlich wünschte er sich, dass aus dem Toaster ein schwarzer Kater würde. Schwupp, saß ein solcher auf der Anrichte. Rabe war perplex. Das nutzte das Biest, um unter dem Küchentisch zu verschwinden. Rabe erschrak. Was, wenn jetzt jemand in die Küche des bis dato katzenfreien Haushalts träte? Aber er besann sich wieder seiner Fähigkeit, und schnell war der Ausreißer in das was er eigentlich war, in einen Toaster, zurückverwandelt. Rabe begann Geschmack an der Zauberei zu finden. Anschließend gab er im Wohnzimmer gemeinsam mit seinem Neffen vor den versammelten Omas und Opas, Onkels und Tanten eine kleine Zaubervorstellung, wobei er behutsam und unauffällig seine neuentdeckte Fähigkeit einsetzte. Und den Anwesenden fiel auch tatsächlich nichts Ungewöhnliches auf, da ja auch der kleine Quentin mit Hilfe seiner Zauberkastentricks ganz beachtlich zaubern konnte. Nur dessen Opa mütterlicherseits bemerkte:
"Das grenzt ja fast an Hexerei".

Wieder zu Hause, bestätigte sich Rabe nochmals gründlich, dass das Geschehene keine Halluzination war und auch nicht nur vorübergehend aufgetreten war. Er verlieh diesem und jenem in seiner Wohnung für kurze Zeit eine andere Gestalt, zauberte Objekte herbei und wieder hinweg und erweckte einige Gebrauchsgegenstände vorübergehend zum Leben. Da stand unter anderem plötzlich eine Telefonzelle mitten im Zimmer, wohingegen sich sein Telefonapparat zur Schwarzwälderkirschtorte transformierte, da kroch sein Staubsauger grunzend über den Teppich und die Karten eines Skatspiels segelten im Formationsflug durch die Wohnung.

Fest stand, dass die Entdeckung sein Leben radikal verändern musste. Er wurde regelrecht euphorisch als er sich ausmalte, wie er sich nun das angenehmste, luxuriöseste Leben machen könnte. Mit einem Fingerschnipsen konnte er sich alles, aber auch alles, wonach ihm der Sinn stand in beliebiger Quantität und Qualität verschaffen. Zum Teufel mit den Bewerbungen, nie mehr Möbel verkaufen. Aber auch Anton Rabe hatte als Kind Märchen gelesen und konnte sich noch gut erinnern, dass es darin Figuren mit Zauberkraft oft unmöglich war, sich Reichtümer zu zaubern. Oder dass anderen ihre Gabe wieder versiegte, wenn sie sie allzu habsüchtig einsetzten. Zaghaft sprach Rabe den Wunsch nach einem Zwanzigmarkschein aus. Da lag er auch schon vor ihm, und es war mit seinen Bedenken dahin. Hemmungslos zauberte er sich einen Koffer voller Geldbündel, etliche Goldbarren und einen Sack voll Diamanten. Aber wie er gerade aus vollen Händen in all dem Reichtum wühlte, erschrak er mit einem Male. Seine tiefsitzenden Charakterzüge, sein Skeptizismus, das Misstrauen und seine Übervorsicht meldeten sich zurück. War dieser direkteste Weg aus seiner Fähigkeit Kapital zu schlagen nicht entsetzlich gefährlich? Wenn man ihn nach der Herkunft seines plötzlichen Wohlstands fragen würde, ja sollte er dann antworten "den habe ich mir gezaubert"? Er sah sich schon entmündigt in einer geschlossenen Anstalt sitzen. Oder ist zaubern vielleicht sogar ungesetzlich? Er wurde immer unruhiger. Zauberer, sagte er sich, haben in unserer Gesellschaft sicher einen schweren Stand. Selbst im Mittelalter hatten es einige nicht leicht. Aber wie sollte er sich seine Gabe dann nutzbar machen?

Er grübelte den ganzen Abend vor sich hin, und als es auf Mitternacht zuging, hatte er eine Idee: Er würde durchaus sagen können "das habe ich mir gezaubert", allerdings über einen Umweg. Er beschloss, sich sein Brot in Zukunft als Zauberkünstler auf der Bühne zu verdienen.

Am nächsten Tag kaufte er sich in einem Geschäft für Unterhaltungskünstlerkonfektion einen hellblauen Glitzerfrack und ein Paar weiße Handschuhe. Sodann schrieb er sich bei einer Künstleragentur ein - bei der, die die niedrigste Provision nahm - als "Simsalabo, der Unglaubliche". Noch am Abend begann er mit der Zusammenstellung eines Programms. Das bereitete Anton Rabe natürlich keine allzu große Mühe. Er musste ja keine komplizierten Tricks einstudieren, Fingerfertigkeit trainieren und er brauchte auch keine präparierten Requisiten. Er konnte ja quasi "aus dem Hut zaubern". Es erschien ihm aber doch angebracht, einen groben Rahmen, einen Ablauf festzulegen, der ihm noch genug Raum für Improvisation ließ. Was den Stil seines ersten Programms betraf, bevorzugte er, vielleicht nur aus Mangel an Phantasie, das Traditionelle: Kunststücke mit Tüchern und Karten, und auch das berühmte weiße Kaninchen aus dem Zylinder durfte natürlich nicht fehlen.

So erachtete sich Anton Rabe bald ausreichend vorbereitet, um seine erste Vorstellung zu bestreiten. Es gab nur noch eine Sache, die ihm etwas Kopfzerbrechen bereitete. Er war sich vollkommen bewusst, dass er nicht gerade der geborene "Showmensch" war. Da machte er sich keine Illusionen. Also probte er weniger die Tricks selbst, sondern mehr deren souveräne Präsentation, indem er versuchte, etwas Schwung in sein hölzernes Gehabe zu bringen, was ihm verteufelt schwer fiel. Außerdem quälte er sich damit ab, eine halbwegs schmissige Conférence zu Papier zu bringen und diese dann auch einigermaßen überzeugend von sich zu geben.

Dann kamen schon bald die ersten Engagements. Er trat vor Hochzeitsgesellschaften und bei Betriebsfeiern auf, sowie auf einem von der Gemeinde ausgerichteten "Magierwochenende". Seine Darbietung kam an. Sie war zwar weitgehend konventionell, aber die Tricks wurden natürlich perfekt ausgeführt. Es fiel auf, dass er sehr flexibel und spontan auf Zuschauerreaktionen eingehen konnte. Auch äußerte sich das Publikum immer wieder erstaunt darüber, dass ihm das Herbei- und Hinwegzaubern lebender Tiere oder großer Gegenstände gelang, ohne Zuhilfenahme der bekannten Kisten, Kästchen, Käfige, Röhren, die andere Zauberer dazu brauchten, und die jene im entscheidenden Moment immer geheimnisvoll zuklappten, umdrehten oder mit schwarzen Tüchern abdeckten. Nachdem Rabe auf der Bühne seine größte Scheu überwunden hatte, gelang es ihm, aus dem schüchternen Gebaren, wie es immer noch seine Art war, gepaart mit der routinierten, überzeugenden Ausführung der Tricks, geradezu seinen eigenen, unverwechselbaren Stil zu kreieren. Man musste annehmen, dass "Simsalobos" linkisches Auftreten seine Masche wäre.

Sein Aufstieg am Magierhimmel war dann auch äußerst rasant. Innerhalb eines Jahres hatte er es ganz an die Spitze dieser Branche geschafft. Er trat in allen großen Varietés auf, füllte die Mehrzweckhallen mittelgroßer Städte, sowie die Kongresshallen, Staatstheater und Eisstadien der Großstädte mit einem begeisterten Publikum. Zudem war er gerngesehener Stargast in den einschlägigen Fernsehshows. Sein etwas unpraktisches Auftreten, seine Tollpatschigkeit und das Fehlen jeglichen Künstlergehabes, sein unschuldiger Charme im Umgang mit dem Publikum, dies alles hatte er längst bewusst zu seinem Markenzeichen ausgebaut. Eines seiner Stilmittel war zum Beispiel die Ankündigung eines relativ schlichten, altbekannten, ja hausbackenen Tricks, aus dem dann aber im Verlauf etwas ganz anderes wurde. Etwas, worüber er selbst überrascht zu sein schien. Es war nur ein "Missgeschick", dass statt des angekündigten weißen Kaninchens plötzlich eine ganze Herde roter - ja, rote Kaninchen - über die Bühne hoppelten. Auch sein Kampf gegen die überall unerwünscht zum Vorschein kommenden Champagnerflaschen brachte immer wieder viel Beifall. Sein ursprünglicher Künstlername war ihm aber doch bald zu kindisch erschienen, und so benannte er sich kurzerhand in "Sir Magic" um.

Mit der Namensänderung wurden auch seine Tricks ein gutes Stück phantasievoller und spektakulärer, so dass die Zuschauer häufig kaum ihren Augen trauten. Aber diese Tatsache machte Rabe auch Sorgen. Er fragte sich, ob er nicht irgendwann einmal an einem Punkt ankomme, an dem das Publikum einfach nicht mehr akzeptieren könne, dass das Gesehene nur Illusion sei, sondern vermuten müsse, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugehe. Doch diese Sorge war völlig unbegründet. Der Zuschauer war von den gemeinen Illusionskünstlern soviel gewohnt und dadurch so abgebrüht, dass er nach einer immer stärkeren Dosis verlangte und dennoch nie auf den Gedanken gekommen wäre, dass hier etwas Übersinnliches vor sich ginge. Denn gerade das war ja das Erfolgsgeheimnis dieser Künstlersparte: Auch wenn der Zuschauer genau wusste, dass hinter all den Tricks eine simple Erklärung steckte, überließ er sich wohlig der Illusion, dass hier einer magische Kräfte hatte. Rabe war in das stillschweigende Abkommen zwischen Magiern und Publikum aufgenommen, welches das Publikum auch akzeptieren ließ, dass der Magier nie sein Geheimnis lüftet. Anton Rabe konnte also getrost junge Elefanten in Klaviere verwandeln und diese über der Bühne herumfliegen lassen. Ja, er konnte sich selbst seine Assistentinnen je nach Bedarf in beliebiger Anzahl auf offener Bühne herbei und wieder hinwegzaubern. Es gab nichts, absolut nichts, was er sich nicht erlauben durfte. Und es gab natürlich auch nichts, wozu er nicht in der Lage gewesen wäre. Aber etwas war doch anders. Nach Rabes Vorstellungen gab es kaum Zuschauer, die zu Hause verbissen grübelten: "wie hat er das bloß gemacht? Ich komme noch dahinter!" Dafür hatte sein Auftritt die meisten zu sehr bezaubert.

Anton Rabe war mit seiner Zauberei genau das geglückt, was er sich gewünscht hatte: Er war zu Wohlstand gelangt. Er hatte sich ein Haus gekauft, in der Einfahrt stand eine solide Limousine, und er lebte auch sonst nicht schlecht. Was er diesbezüglich erreicht hatte, stellte ihn eigentlich schon zufrieden. Er war nicht auf Protzigkeit und grenzenlosen Ruhm aus. Aber an seinen Auftritten hatte er inzwischen solche Freude gefunden, dass er seine Karriere mit Begeisterung fortsetzte. Mit der Zeit bereitete es ihm aber auch Mühe, mit seinem Geheimnis zu leben. Immer häufiger verspürte er den Drang, sich irgend jemandem, am liebsten natürlich seinem Publikum, mitzuteilen.

Sein Ruf war inzwischen international, und als nächstes stand für Anton Rabe eine Tournee nach Amerika auf dem Programm. Er sollte in einigen der großen Städte auftreten und zum Schluss noch vier Wochen ensuite in Las Vegas. Die wenigen Vorstellungen in Chicago, New York, Miami und Los Angeles waren schon Wochen im voraus ausverkauft. Auf dem Schwarzmarkt waren noch wenige Karten zu Preisen von bis zu 250 Dollar erhältlich. Anton Rabes, oder besser gesagt "Sir Magics" Vorstellungen waren ihren Eintrittspreis dann aber auch wirklich wert. Die Zuschauer bekamen eine perfekte, mit dem Rabe eigenen unfreiwilligen Humor gewürzte Show geboten, in der Kunststücke von einer Sensationalität gezeigt wurden, wie sie bisher noch niemals in einer Illusionsshow zu sehen waren. Die Medien berichteten groß und waren sich einig, dass man es hier mit einem wirklich herausragenden Ereignis zu tun habe, das man sich eigentlich nicht entgehen lassen dürfe, weil es, wie eine Zeitung schrieb "im wahrsten Wortsinne zauberhaft wäre". Daraufhin musste Rabe in allen vier Städten einige zusätzliche Vorstellungen geben, bevor er sich in Richtung Las Vegas aufmachte.

In Amerika war aber bis zu diesem Zeitpunkt eine anderer Illusionist, mit dem Künstlernamen "Oliver Twist", der unangefochtene Star der Branche. Dieser "Oliver Twist" hatte sich durch einige bombastische Effekte, wie dem Verschwindenlassen ganzer Wolkenkratzer, Eisenbahnzüge, Flugzeuge und Ozeanriesen, die speziell für die Fernsehkameras inszeniert worden waren, schnell an die Spitze der amerikanischen Zaubererinnung gesetzt und sich durch die Verlobung mit einem internationalen Spitzenmodel auf lange Zeit seine Schlagzeilen in der Regenbogenpresse gesichert. Trotz seiner weltweiten Auftritte hatte er Las Vegas zu so etwas wie seiner Heimatbasis erklärt. Über das Auftauchen des neuen Kollegen war Oliver Twist nicht gerade erfreut, denn er sah schon, aufgrund der überwältigenden Medienresonanz, sein Publikum zu "Sir Magic" überlaufen. Also dachte Twist darüber nach, wie dem Konkurrenten ein Bein zu stellen sei. Seiner Ansicht nach war in der Stadt kein Platz für zwei Spitzenmagier. Noch vor Rabes erstem Auftritt in Las Vegas stellte er den Antrag, dass Rabe vor einer unabhängigen Kommission des US-Magierzirkels seine Tricks offenzulegen habe, um zu prüfen, ob es sich hier nicht um unlauteren Wettbewerb handele. Ein solches Verfahren war im Land der unbegrenzten Möglichkeiten durchaus im Rahmen des Möglichen. Also stand Rabe eines Nachmittags im Sitzungssaal eines Hotels der Spielerstadt vor sieben unabhängigen Magiern, unter ihnen, als Antragsteller, auch "Oliver Twist".

Anton Rabe war verärgert. Nachdem er die unsägliche "Vorladung" erhalten hatte, spielte er einen Moment mit dem Gedanken, sich in einem Laden für Zaubereibedarf ein paar käufliche Tricks zu besorgen und die der Kommission zu erklären. Das verwarf er aber schnell wieder, weil ihm klar war, dass sich so billig kein Magier täuschen ließe. Dann war er mit einer ganz anderen Strategie zum Ort seiner Inquisition gefahren.

Er führte den Herren einige seiner schönsten Tricks vor. Diese schauten erst mit eindringlichen Blicken zu, aber dann verklärten sich schon bald ihre Gesichter. Sie waren wie verzaubert von Rabes Künsten. Er hatte sie bald ganz auf seiner Seite. Sie fragten sich plötzlich, ob denn "Oliver Twist" ihnen gegenüber immer offen war. Warum stand dieser Effekthascher eigentlich soweit oben, während sie noch immer in Altersheimen auftreten mussten? Rabe war entlassen, Urteil zu seinen Gunsten. Beim Hinausgehen ließ er sich nicht nehmen noch zu sagen: "Und überhaupt, wir im alten Europa hüten ein paar Geheimnisse, von denen ihr euch hier nichts träumen lasst. Und die möchten wir auch für uns behalten.". Er hatte gesiegt. Aber am glücklichsten war er darüber, dass er der Versuchung widerstanden hatte, hier zu offenbaren, was wirklich mit ihm los war.

Doch "Oliver Twist" war noch nicht zufrieden. Nachdem er so gedemütigt worden war und erkennen musste, dass er es bei Rabe mit einer Persönlichkeit zu tun hatte, die seine Vormachtstellung auf dem Magiersektor ernsthaft gefährden konnte, sann er nach anderen Mitteln, um Rabe zu stoppen. Schließlich behauptete er, gänzlich aus dem Blauen heraus, dass "Sir Magic" einige seiner spektakulärsten Tricks von ihm geklaut hätte. Nun hatten einige von Rabes Darbietungen, wie das Herbeizaubern großer Raubtiere und das Fliegen, tatsächlich einige Ähnlichkeit mit den Paradekunststücken Oliver Twists. Allein die reine Behauptung des Missgünstigen reichte aus, dass dessen Anwälte eine einstweilige Verfügung erwirken konnten, die weitere Auftritte "Sir Magics" in den USA bis auf weiteres untersagte. Das führte zu einem kleinen Skandal, der in den Medien ausführlich diskutiert wurde. Besonders schlimm war es aber natürlich für Anton Rabe. Er war unglaublich wütend über dieses "Berufsverbot" und dachte darüber nach, ob ihm nicht seine wunderbare Gabe Möglichkeiten bot, dagegen vorzugehen. Aber er wollte das nicht ausreizen, denn er hatte sich zu Anfang eigentlich geschworen, aus Gründen seiner eigenen Sicherheit seine Fähigkeiten nur während seiner Auftritte einzusetzen. Aber er nahm so oft wie möglich die Gelegenheit war, in der Öffentlichkeit zu beteuern, dass an der Behauptung seines missgünstigen Kollegen kein Körnchen Wahrheit sei. Das nahm man ihm auch gerne ab. Vor allem seine neu gewonnene amerikanische Fangemeinde stand geschlossen hinter ihm. Doch konnte dies nichts an der rechtlichen Situation ändern. Zudem kamen auch hohe Kosten auf Rabe zu, da der Veranstalter der Vorstellungen in Las Vegas nun Schadensersatz für die entgangenen Einnahmen und den Verdienstausfall durch die nun über Wochen leerstehenden Räumlichkeiten geltend machte. In Rabe gärte es. Er wollte irgendwie zurückschlagen. Der Druck, sich mitteilen zu wollen wurde beinahe unerträglich. Wie hätte es ihn nun erleichtert, zu offenbaren, dass er nicht irgendeiner dieser Pseudozauberer war, die ihre Tricks am Computer designen und die Zuschauer durch ihr übertriebenes Gehabe von dem rein mechanisch-optischen Vorgang ablenken, den eigentlich jeder mit gesundem Menschenverstand durchschauen müsste, oder deren Tricks nur durch modernste Fernsehverfahren möglich wurden.

Eines Abends war er in der Talkshow eines Komikers zu Gast. Dieser ließ sich genüsslich über die Rivalität zwischen den beiden Magiern aus und stellte Rabe in diesem Zusammenhang einige zweideutige Fragen. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Rabe konnte nicht mehr an sich halten, es musste heraus. Er verkündete dem Millionenpublikum vor den Fernsehschirmen im ganzen Land: "Ich klaue keine billigen Tricks, ich zaubere wirklich, ich habe magische Kräfte!"

Rabe erwartete einen großen Knall, irgendeine apokalyptische Erscheinung, wenigstens einen großen Aufschrei im Saalpublikum. Aber die einzige sichtbare Reaktion war das breite Grinsen des Talkmasters. Na gut, schlug der vor, wenn dem so sei, dann solle Rabe seine Behauptung doch einmal beweisen. Daraufhin schnippte Anton Rabe mit den Fingern und im Fernsehstudio stand plötzlich ein schwarzes Pferd. Er schnippte nochmals und das Pferd verwandelte sich in eine Schar weißer Tauben, die sich unter lautem Flügelrascheln im ganzen Studio verteilten. Begeisterter Applaus des Publikums, Bravorufe. Ja, das wäre der Beweis, der große "Sir Magic" könne wirklich zaubern, erklärte der Präsentator und schüttelte Rabe die Hand zum Abschied, denn es war Zeit für den nächsten Gast.

Rabe fuhr wütend ins Hotel, packte seinen Koffer und nahm den nächsten Flug nach Europa. Schon im Flugzeug wich seine Wut einer inneren Ruhe. Nachdem er von zu Hause aus seinen Agenten angerufen und seine Karriere für beendet erklärt hatte, war das letzte Restchen des inneren Drucks, den er die letzten Wochen und Monate mit sich herumgetragen hatte, von ihm gewichen. Am Abend sah er sich mit mildem Lächeln eine Vorstellung von "Oliver Twist" in Las Vegas an. Er selbst zauberte nie mehr vor Publikum. Nur einmal soll er noch in einem Kindergarten aufgetreten sein. Und dann war er irgendwann einmal aus der Stadt verschwunden. Mit seinem Auto. Und mit seinem Haus. Denn da wo es gestanden hatte, befand sich nur noch eine gähnende Baugrube.


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Last modified: 01:06:21, 06. Oktober 2008