Andreas Stuth |
Carmine Poltrone hatte geschäftlich was in Deutschland zu erledigen.
Meist ließ er solche Sachen ja von Untergebenen machen, aber
diese Angelegenheit war so heikel, dass er sie lieber selbst
übernahm. Da hatte nämlich ein Michele Mucoso ganz gehörig
Mist gebaut. Was der sich geleistet hatte, war eine Schande
für die ganze ehrenwerte Gesellschaft, und von ihm als unangefochtenem
Padrone seiner "Familie" keinesfalls zu tolerieren, auch wenn
der betroffene Ableger im kalten Norden angesiedelt war. Mit
diesem Mucoso müsste mal ein ernstes Gespräch unter vier Augen
geführt werden, vielleicht in einem abgelegenen Waldstück.
Dann war da noch etwas auf einem Friedhof zu verrichten und
auch mit anderen Familienmitgliedern sollte er bei dieser Gelegenheit
wieder einmal gründlich reden.
Poltrone reiste wie üblich mit dem Zug. "Wer fliegt", sagte
er immer, "hat keine Ehrfurcht vor den Distanzen der Schöpfung."
In Wirklichkeit hatte er aber ganz einfach gewaltigen Schiss vorm Fliegen. Seine Reise war wie stets bis ins kleinste vorbereitet.
Vor allem bei der Auswahl der geeigneten Kleidung ließ er Sorgfalt
walten. Für seine Mission im kalten Deutschland hatte er gut
vorgesorgt. Beim Einsteigen gestern früh in Palermo, war ihm
nur ein klein wenig zu warm, in seinem dreiteiligen Anzug mit
dem Wintermantel darüber und den gefütterten Handschuhen. Doch
die nächtliche Kühle beim mehrfachen Umsteigen bestätigte ihn
in der Wahl seiner Garderobe.
Als er im Hauptbahnhof seines Zielortes aus dem Zug stieg,
blieb ihm fast die Luft weg. 28 Grad zeigte die große Digitalanzeige
im Wechsel mit der Uhrzeit. Da ihm gar zu sehr der Schweiß
von der Stirn rann, half ihm ein Bahnbeamter in kurzärmligem
Hemd mit seinem Koffer.
Er nahm ein Taxi zum Hotel, stellte sein Gepäck ab und beschloss,
zunächst einmal etwas essen zu gehen. Er wusste um die Gastfreundschaft
seiner gesegneten Familie. Sie würden ihn sicherlich auch schon
um diese Zeit ganz gemäß der Tradition bewirten, wohl mit seinem
Lieblingsgericht, den "Tagliatelle al pesce spada". Doch er
wollte sich erst einmal ungestört in der Stadt umsehen und
seine Familie dann später aufsuchen, wenn er vielleicht schon
mehr wusste. Und da war zuvor ja auch noch die Sache auf diesem
Friedhof zu erledigen. Er machte sich auf, den Wintermantel
über dem Arm. Das Wetter im kalten Norden konnte schnell umschlagen.
In unmittelbarer Nähe des Hotels fand er das Restaurant "Cosa
Nostra". Das erschien ihm passend. Beim Eintreten wurde er
vom Wirt überschwänglich begrüßt:
"Des nenn i a echte Überraschung. Endlich kommt da amal oiner
nei, der aussieht wia a echter Mafiaboss. I hoff, dass sia des
ed als a Beleidigung auffassat. Im Gegateil, i wär froh, wenn
mehr Leit da nei kämat, die a gewisses Stilbewuschtsein hättat.
Isch der Disch eana recht?"
Poltrone hatte kein Wort verstanden und nahm Platz. Im Hintergrund
knödelten Pavarotti und Ramazotti aus den Stereoboxen. Mit
der Speisekarte hatte er sprachlich weniger Probleme, den dort
fand er eine Anzahl Gerichte, die ihm dem Namen nach bekannt
waren. Aber was sollte er von einer "Pizza Bismarck" mit Spiegelei
halten? Und von dem "preiswerten Mittagsmenü": Hühnerfleisch
mit Bambusprossen, Frühlingssuppe als Vorspeise? Zudem war
das Restaurant nicht klimatisiert und er hatte es warm, sehr
warm. Er wollte schon aufstehen und gehen, da trat der Wirt
heran und offerierte ihm einen Teller mit gemischten Vorspeisen.
"Des hot der Herr Wung, onser Chefkoch, ekschtra für sie zsammagschteld.
Der wois genau, was oim wia ehna schmeckt."
Beschwichtigt machte sich Poltrone an den wirklich schmackhaften
Teller mit diversen "Sottaceti".
Dennoch, das Ganze gab ihm zu denken. Waren hier schon die
italienischen Restaurants von den Chinesen unterwandert? Er
hatte von den "Triaden" gehört, die Körperteile abschneiden,
wenn nicht pariert wird. Dagegen hatte er doch immer lieber
das gute Gespräch auf abgelegenem Gebiet vorgezogen. Ja, und
was für ein Landsmann war der ihm verdächtig freundliche Wirt?
Die Sprache, die jener sprach, war Poltrone jedenfalls unbekannt.
Nun gut, er würde sich heute abend bei Claudio Nonsapone einmal
gründlich unterrichten lassen.
Nach dem Essen ließ er sich im Taxi zu diesem Friedhof bringen.
Das entsprechende Grab hatte er schnell gefunden. Poltrone musste erst einmal das Jackett ausziehen und über einen Grabstein
hängen. Unter seinen Armen hatte sich große Schweißflecke gebildet.
Das Thermometer war auf 34 Grad geklommen. Da war sie also,
die letzte Ruhestätte seines
Statthalters in Deutschland. Der hatte für den Fall seines Ablebens
ein Geheimfach in seinen Grabstein einarbeiten lassen, von
dem nur Poltrone wusste. Nun galt es, dieses Geheimfach zu finden,
zu öffnen, und die sicherlich darin befindliche Botschaft zu
lesen. Gerade wollte er die Rückseite des Grabsteins abtasten,
wo sich irgendwo das Versteck befinden musste, da sprach ihn
jemand an. Es war ein Totengräber.
"Sie, is dat ihre Jacke hier? An ihrer Stelle wäre ich vorsichtiger.
Sehn´se, ich hätte die jetzt schon mitnehmen können, und sie
hätten nüscht gemerkt. Die Ganoven sind doch unter uns. Es
wird ja immer schlimmer. Wer sacht mir jetzt zum Bleistift, dass sie kein Ganove sind? Nicht´s für ungut, aber könnte doch
sein, nich? Also, ich wollte Sie ja nur warnen."
Schönen Tach noch."
Poltrone ließ den guten Mann ein Stück seines Weges ziehen
und wollte sich schon wieder der Suche widmen, da näherten
sich erneut Menschen. In unmittelbarer Nähe seines Standorts
wurden Vorbereitungen für eine Beerdigung getroffen und es
versammelte sich auch schon eine stattliche Trauergemeinde
samt Blaskapelle. Poltrone spürte, wie ihm das Blut in den
Kopf stieg. "Cazzo, che maledetta sfiga!" stieß er mit erstickter
Stimme hervor. Er versuchte, sich nicht aufzuregen, weil ihm
schon heiß genug war. Fest stand aber, dass seine Suche fürs
erste behindert war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als
sie auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.
Auf der gottverlassenen Straße vor dem Friedhof ließ sich
weit und breit kein Taxi blicken und telefonieren war nicht
möglich. Es half nichts, Poltrone musste in der sengenden Sonne
zur nächsten Telefonzelle gehen. Er hatte seine Weste aufgeknöpft,
unter der sein weißes Hemd wie eine zweite Haut auf seinem
Körper klebte. Zurück im Hotel ruhte er etwas aus und spülte
sich den eingetrockneten Schweiß ab. Dann überprüfte er seine
Waffe, packte sie in seinen Aktenkoffer, zog ein frisches Hemd
an und machte sich auf, den eigentlichen Zweck seiner Reise
zur erledigen, das eindringliche Gespräch mit Michele Mucoso.
Als er vor dessen Haus aus dem Taxi stieg wimmelte es in der
Straße vor Polizisten. Eben kamen zwei Beamte aus der Einfahrt.
Mit sich führten sie in Handschellen Michele Mucoso. Als der
Carmine Poltrone erblickte, machte er erst ein erstauntes Gesicht
und zog ihm dann eine lange Nase.
"Figlio di puttana", grollte Poltrone in sich hinein, machte
sich dann aber lieber schnell aus dem Staub, was wörtlich zu
nehmen war, denn in der Straße wurde gebaut und sommerliche
Windstöße wirbelten Sand und allerlei andere lose Baustoffe
auf. Die dunkle Hose und die Schuhe weiß bestäubt, bestieg
Poltrone erneut ein Taxi und ließ sich zur Adresse von
Claudio Nonsapone bringen. Wie freute er sich jetzt, nach all
den Strapazen und Fehlschlägen, auf den herzlichen Empfang
bei seinem liebsten, noch lebenden Vertrauten hierzulande und
dessen Familie, seiner Frau Albertina und deren beiden reizenden
Kindern Marcello und Tiziana. Natürlich hatte er unterwegs
noch Blumen für die Mutter und Süßigkeiten für die Kinder besorgt,
und nun lief er in freudiger Erwartung den Kiesweg zum Anwesen
der Nonsapones hinauf. Aus dem Haus nahm er Stimmen wahr, laute
Stimmen. Als er sich näherte, konnte er einige hässliche Schimpfworte
heraushören und die eine Stimme als die Claudios und die andere
als die Albertinas identifizieren. Er klingelte. Claudio tat
ihm auf, in kurzen Hosen und bedrucktem T-Shirt.
"Du ?!, äh, du? Du!...äh, ist ja wunderbar, wie freue ich
mich! Tritt ein."
Albertina kam mit hochrotem Kopf die Treppe herunter und nörgelte:
"Wer ist da?"
Dann flötete sie: "Oh, oh... Carmine... wie schön."
Poltrone übergab die Blumen und nachdem sämtliche Begrüßungsküsse
ausgetauscht waren, fragte er nach den Kindern.
"Marcello, Tiziana, venite subito!" brüllte Nonsapone nach
oben.
Auf der Treppe zeigten sich schüchtern das 5jährige Mädchen
und der 7jährige Junge.
"Jetzt kommt schon her, aber ein bisschen plötzlich, euer Onkel
will euch begrüßen."
"Hatter uns och wat mitjebracht", fragte der kleine Marcello,
der jetzt energisch heranmarschierte.
Poltrone sank auf die Knie.
"Marcello, vieni! Carino!" Er ließ einen ganzen Schwall verbaler
Liebkosungen in seiner Muttersprache auf den Jungen ab.
"Ik versteh dir nich, Onkel. Haste uns wenichstens wat mitjebracht?"
Poltrone überreichte die Süßigkeiten.
"Papa, der Onkel stinkt nach Schweiß."
Nonsapone wies seinen Sohn energisch zurecht und befahl ihm,
auf sein Zimmer zu gehen. Dann wandte er sich beschwichtigend
an Poltrone:
"Tut mit entsetzlich leid, aber weißt du, er kommt jetzt in
dieses Alter. Wir waren ja auch keine Engel. Aber Tiziana möchte
dir sicher ihre Hamster zeigen."
Sie gingen auf Tizianas Zimmer, und die eben noch schüchterne
Kleine war wie verwandelt, als sie begeistert ihre Hamster
vorführte.
"Also, ditte is Lucky Luciano, und der mit dem vielen Weiß
is Meyer Lansky. Die Namen hat ihnen mein Papa gegeben. Aba
ich finde sie auch schön."
Poltrone musste schmunzeln. Dann gab er Tiziana ihr Geschenk.
"Danke, lieber Onkel, und Lucky Luciano frisst viel mehr als
Meyer Lansky, dafür kann man Meyer Lansky besser streicheln."
Poltrone steckte seinen Finger in den Käfig und versuchte
Meyer Lansky zu streicheln. Der zögerte nicht lange und bis Poltrone mit einem kräftigen Nagerbiss in den Finger. Die Holzwolle
im Käfig färbte sich rot.
"Carmine, es tut mir so entsetzlich leid", griff Nonsapone
ein, "komm, wir gehen in mein Arbeitszimmer, da verarzte ich
dich. Ich habe alles nötige da. Bei mir kamen weiß Gott schon
Leute rein, die schlimmer zugerichtet waren als du jetzt."
"Ist gut Claudio. Vielleicht können wir ja da auch bei einem
guten Roten alles wichtige besprechen. Wenn dann deine liebreizende
Albertina inzwischen für uns das Essen richten würde. Sie machte
immer diese köstlichen "Tagliatelle al pesce spada", die noch
fast die meiner Mutter übertrafen."
"Albertina und kochen? Das macht sie ja schon lange nicht
mehr. Sie besucht jetzt solche Kurse, Esoterik und so´n Scheißdreck,
die putta... Tut mir leid, aber ich kann dir was vom Italiener
kommen lassen."
"Nein, nein, las mal, gehen wir erst in dein Arbeitszimmer
und bereden alles."
Und dann setzte Claudio Nonsapone Carmine Poltrone ins Bild
und klagte ihm sein Leid:
"Alles nicht mehr so wie früher...mit unseren Methoden erreicht
man nichts mehr...all die guten Leute übergelaufen... Ich weiß
nicht ob du an seinem Grab warst,... hatte da ein Geheimfach
in den Grabstein einbauen lassen...sind die "anderen" dahintergekommen...da
war eine Nachricht an dich drin... haben die in die Hände gekriegt.
Ganz übel. Da standen Namen drauf, verstehst du, Namen! Dann
unsere verdammte "omertà", dieses dämliche Schweigen. Einige
verstehen das völlig falsch. Mit denen ist nicht mehr zu kommunizieren.
Die sagen dir nicht mal, was sie zum Geburtstag haben wollen.
Lange Rede kurzer Sinn, mit unseren Geschäften geht es abwärts.
Hier sieh dir die Bilanzen an: Glückspiel, Prostitution, Schutzgeld,
die drei Säulen, alles rückläufig. Und dann die Russen, die
machen sich immer breiter. Und die haben was Neues, Organhandel.
Ich habe auch schon versucht, da was aufzubauen, aber da kriegst
du keinen Fuß mehr in die Tür. Es wird Zeit, dass du hier mal
wieder mit der Faust auf den Tisch haust, Carmine."
"Claudio, ich bin entsetzlich müde, ruf mir ein Taxi, ich
möchte schlafen."
"Du kannst hier schlafen, wenn du willst."
"Nein, danke."
"Ich würde dich fahren, aber mein Lincoln ist in der Inspektion
und Albertina ist inzwischen mit dem Lancia
zu einem ihrer verfluchten Kurse."
"Ruf mir einfach ein Taxi."
"Mein Telefon geht leider nicht, waren bestimmt die Russen."
Nach kurzem Abschied ging Poltrone also mal wieder zu Fuß
zur nächsten Telefonzelle. Die Hitze des Tages war der für
einen klaren Tag typischen Abendkühle gewichen und nun drohte
der Himmel mit schwarzen Wolken. Er fröstelte leicht. Der Mantel
lag im Hotel. Er bestellte sich ein Taxi und wartete. Ein ungeheurer
Regenschauer brach los. Poltrone wartete in der Telefonzelle.
Das Taxi kam. Aber im unmittelbaren Bereich der Telefonzelle
wurde gebaut, und das Taxi musste in etwa 100 Meter Entfernung
stoppen. Poltrone rannte so schnell er konnte, hochspritzender
Schlamm versaute ihm die Hose. Bis auf die Knochen durchnässt erreichte er das Taxi.
Im Hotel hatte er die Wahl zwischen dem regennassen Hemd,
dem, mit dem inzwischen eingetrockneten Schweiß und seinem
Pyjama. Aber er konnte noch nicht schlafen und wollte lieber
noch in der Hotelbar etwas trinken, um das Erlebte zu verdauen.
Also entschied er sich für das verschwitzte, aber jetzt trockene
Hemd.
Dann saß er an der Hotelbar, alleine, stundenlang brütend
über einem Gläschen Grappa.
Da kamen plötzlich drei fröhliche Männer herein, ganz entsprechend
der Wetterumstände und dennoch schick gekleidet.
"He, Towarischtsch, warum so traurig? Trink mit uns, dann
wirst kommen auf andere Gedanken."
Schnell kam Wodka im Überfluss heran. Poltrone wachte aus seiner
Lethargie auf und trank mit diesen Männern das eine um das
andere Glas. Man unterhielt sich in dem gebrochenen Englisch,
dem beide Parteien mächtig waren. Und die Russen erzählten
und erzählten. Poltrone vergaß die "omertà" und gab auch einige
starke Stücke zum besten. Dann kippte er hintenüber.
Er erwachte in der Badewanne seines Hotelzimmers. Die war
mit Eiswasser gefüllt. Als Poltrone seinen Körper abtastete,
fühlte er am Rücken ein kleines Röhrchen. Er nahm verschwommen
wahr, dass etwas mit Lippenstift auf den Spiegel des Badezimmers
geschrieben stand:
"Bewegen Sie sich nicht. Rufen Sie einen Arzt. Wir haben Ihre
Nieren entnommen. Telefon in Ihrer Reichweite."
Das Telefon stand in der Tat am Beckenrand. Poltrone, bestrebt
sich so wenig wie möglich zu bewegen und in Todesangst, hob
zittrig ab und wollte die Notfallnummer wählen, da entdeckte
er den Zettel, der auf die Innenseite des Telefonhörers geklebt
war.
"Spaß muss sein, Ihre Nieren sind noch drin, aber hätten...
Vielen Dank für den spaßigen Abend, Towarischtsch. Auf ein
Wiedersehen."
Carmine Poltrone stieg aus der Wanne, immer noch steif vor
Schrecken, kleidete sich an, packte zusammen zahlte seine Rechnung
und verließ Stadt und Land auf dem schnellsten Wege. Auf der
langen Reise versuchte er über eine Straffung seiner Organisation
in Deutschland nachzudenken. Aber eine schwere Erkältung machte
ihm zu schaffen und er war ungeheuer müde. Er nickte ein und
träumte von großen Schüsseln voll "Tagliatelle al pesce spada".